Samstag, 3. Mai 2014

Wilhelm Heitmeyer - Soziologischer Erklärungsansatz

Heitmeyer untersucht, welche Jugendlichen unter welchen sozialen bzw. gesellschaftlichen Lebensbedingungen Gewaltorientierungen ausbilden

1. Von der Marktwirtschaft zur Marktgesellschaft:
  • Der Prozess zunehmender Individualisierung in westl. Gesellschaften wird von Betroffenen ambivalent (gegensätzlich) erlebt
  • Durch den Anstieg von Konsummöglichkeiten, Mobilität u. Flexibilität (sozial u. geografisch), sowie einer „Bildungsexpansion“ entstehen neben Entscheidungsfreiheiten auch Entscheidungszwänge. Diese müssen von Menschen individuell bewältigt werden. 
  • Mit der Ambivalenz im Individualisierungsprozess können nicht alle Jugendlichen umgehen
  • Die gegenwärtige Individualisierung bedingt eine paradoxe Lebenssituation: Einerseits ist ein Zuwachs an Individualisierungschancen bemerkbar, andererseits müssen Menschen erleben, dass sie im Arbeitsleben ersetzbar sind / müssen Anforderungen erfüllen, auf welche sie keinen Einfluss haben
  • H. weist auf einen prinzipiellen Unterschied zwischen Ungleichheit und Ungleichwertigkeit hin
    • Ungleichheit zeigt sich in materiell unterschiedl. Lebensbedingungen u. ist Folge gesellschaftlich struktureller Entwicklungen. Diese begünstigen Möglichkeiten des Auf- u. des Abstiegs, welche zur Ausbildung unterschiedl. sozialer Schichten führt.
  • Solange sie sich mit anerkennenden gesellschaftl. Gerechtigkeitskriterien vereinbaren lässt, besteht kaum Gefahr, dass aus ihr Ausgrenzungs-/ Gewaltorientierungen entstehe
    • Nach H. besteht die Gefahr, dass zur Rechtfertigung sozialer Ungleichheit eine Ideologie der „Ungleichwertigkeit“ von Menschen vertreten werden kann
  • Behauptung: Ungleichheit unter Menschen sei „natürlich“
    • Dadurch entsteht ein Prozess, in welchem Marktwirtschaft zunehmend in Marktgesellschaft überführt wird
  • Folge: Menschen werden nach Marktkriterien beurteilt, d.h. ihr Wert wird nach ihrer sozialen Lage, ihrem Bildungsabschluss, ihrem beruflichem Abschluss eingeschätzt → führt zu Angst vor Abstieg u. Statusverlust in allen Schichten
    • H. stellt 3 mögliche gesellschaftliche Reaktionsformen auf:
      • Sozialstaatliche Maßnahmen werden zurückgenommen. Damit wird jeder einzelne noch mehr zur Anpassung gezwungen.
      • Moral und Erziehung werden erneuert, ohne gesamtgesellschaftliche Veränderungen einzuleiten.
      • Politik wird ethnisiert, d.h. Ursachen sozialer Probleme werden über ethnische Zuschreibungen beschrieben.
    • Wenn sich gesellschaftl. Reaktionsformen mit problematischen Erfahrungen in Familie u. Freundeskreis verbinden, fühlen sich Betroffene in ihren Lebenssituationen hilflos u. verunsichert
    • Betroffene ziehen sich resignativ- passiv zurück / zeigen ausgrenzendes, aggressives u. gewalttätiges Verhalten → Folge problematischer gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen

2. Unterschiedliche Erfahrungswelten u. Verarbeitungsmöglichkeiten von Jugendlichen:

  • Menschen werden niemals nur durch einseitige Erfahrungen, sondern auch bezüglich bestimmter Lebensmilieus geprägt
  • Identitätsprobleme werden provoziert, wenn der gesellschaftl. „Einforderungsdruck“ zu groß wird u. keine „Rückenstärkung“ aus dem sozialen Milieu zu erwarten ist.

3. Erklärungsversuche für menschenfeindliche / gewaltbejahende Einstellungen – Heitmeyers drei Ebenen:

1.    Struktur- Kultur- Ebene: Individualisierung, Milieu, Ungleichheit
2.    Sozial- interaktive, interpersonale Ebene: Freisetzungen, Auflösungen, Gewissheitsverluste
3.    Personelle, intrapsychische Ebene: Identität


  • Ungleiche Chancen für Jugendliche für:
    •  Individuell- funktionale Systemintegration: Arbeitsmarkt, soziale Absicherung
    • Kommunikativ- interaktive Sozialintegration: Möglichkeiten u. Fähigkeiten zur politischen Partizipation
    • Kulturell- expressive Sozialintegration: Sozial- emotionaler Rückhalt in der Alltagswelt
  • Besondere Gefahr für eine positive Gewalteinstellung, wenn 3 unterschiedl. Prozesse miteinander verbunden sind:
    • Menschen ohne Arbeitsstelle u. soziale Anerkennung erleben individuell Desintegration
    • Menschen mit Integrations- u. Zugangsproblemen zu Arbeit u. Bildung leben in bestimmten Stadtteilen unter sich verdichten
    • Menschen mit Integrationsproblemen bilden in bestimmten Stadtteilen die Mehrheit u. haben somit kaum Beziehungen zu „integrierten“ Menschen, an denen sie sich orientieren können

4. Entstehung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit u- Gewaltbereitschaft 
Das Desintegrations- Gewalt- Konzept:


  • Die eigene „Unterlegenheit“ wird durch die „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ in eine empfundene „Überlegenheit“ transformiert
  •  Somit wenden sich Menschen gegen Menschen- /gruppen, die sie für minderwertiger erklären können, als sie sich selbst empfinden
    • Sie zeigen mangelnde Anerkennung, Missachtung, Verachtung, Diskriminierung, Gewalt → Damit können sie ihre eigene Minderwertigkeit ertragen
  • „Gewaltaffine Einstellungen“:
    • Machiavellismus: Bestrebung, sich rücksichtslos durchzusetzen
    • Autoritarismus: Kritikloses Anerkennen von „Mächtigen“
    • „Law and Order“- Einstellung: Dogmatisches Verteidigen einer Ordnung / Regeln
  • Da Jugendliche eher impulsiv handeln, ohne Folgen zu reflektieren, sind sie eher gewalttätig als Erwachsene. Jugendgewalt nimmt zu, wenn Jugendliche Gewalt als legitimes Mittel zur Selbstdurchsetzung verwenden.
  • 5 mögliche Legitimationen für Gewalt: Gewalt als…
    •  Gegengewalt (Täter erklärt sich selbst zum „Opfer“)
    • „Ultima Ratio“ (letztmöglicher Weg)
    • Ordnungsfaktor (rechtfertigt staatliche Gewalt)
    • normales Handlungsmuster  (gewalttätiges Handeln als „normal“)
    • Klärung u. Vollstreckung („Alternative“ für „Nur- Reden)

5. „Positives“ Erleben im Umgang mit Gewalt:

  • Gewalt verschafft Eindeutigkeit, womit die Ambivalenz „bearbeitbar“ erscheint
  • Gewalt als Demonstration der Überwindung der eigenen Ohnmacht
  • Gewalt garantiert Fremdwahrnehmung, wodurch Selbstwertsamkeit erfahren wird
  • Gewalt ermöglicht in Gruppen das Erleben von Solidarität
  • Gewalt verschafft körperlich, sinnliche Erfahrungen u. überwindet die Unterlegenheit
→ Fazit: Gewalt erscheint als hochgradig attraktiv


6.    Vier Varianten von Gewalt:


  1. Expressive Gewalt: Jugendliche gewinnen durch Tabubrüche Aufmerksamkeit u. können ihre „Einzigartigkeit“ unterstreichen
  2. Instrumentelle Gewalt: Mittel zur (angestrebten) Problemlösung
  3. Regressive Gewalt: An nationale u. ethnische Kategorien ausgerichtet und um eigene berufliche, soziale, politische Desintegrationsprozesse aufzuheben
  4. Autoaggressive Gewalt: Wenn andere Auswege sich nicht eröffnen

Fazit:
- Gewalt wird in bestimmten sozialen Milieus auf Basis bestimmter Lebenserfahrungen attraktiv
-vermittelt Gefühl der eigenen Wertigkeit
-verschafft in bestimmten sozialen Kontexten Anerkennung

von Caroline Almoneit

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